Kurt Pätzold
Die Massengefolgschaft des Naziregimes und die Einsamkeit des Widerstandskämpfers
Vortrag auf dem Symposium „Leben im Widerstand“ zum Andenken an Walter Krämer in Siegen, 22. Oktober 2011
Der Titel zu diesem Vortrag mag schon auf den ersten Blick als eine Provokation gelten – und das soll er auch. Er wurde gewählt, wiewohl mir bei seiner Formulierung der Protest Walter Bartels, meines Genossen und Kollegen aus Zeiten an der Humboldt-Universität, gleichsam im Ohr klang, des Kommunisten, Emigranten, der in der Tschechoslowakei in die Hände der Faschisten geriet, in das Konzentrationslager Buchenwald gesperrt wurde und dort zum internationalen Lagerkomitee der Antifaschisten gehörte. Gegen diesen Protest ist es bei dem Titel geblieben. Seine Rechtfertigung ergibt die Antwort auf die Frage, ob wir, die Nachgeborenen oder Eben-noch-Zeitgenossen die Bilder vom Widerstandskampf gegen den Faschismus an der Macht nicht etwas zu einfach pflegen, sie uns vielleicht auch ein wenig zu schön machen, trotz aller Geschichtskenntnisse, trotz des Wissens um die Unzahl der Opfer und unseres aufrichtigen Gedenkens an sie.
Denn: Kommt das Gespräch auf diese Frauen und Männer, dann ist von Gruppen die Rede, die ihre Namen haben, meist nach Personen, die an ihrer Spitze standen: die Saefkow-Jakob-Bästlein-Organisation, die Gruppe um Martin Schwantes in Pommern, die Berliner Gruppe von Robert Uhrig. Die Verschwörung, die den Krieg beenden wollte und den Weg dahin durch das Attentat auf Hitler freimachen wollte, heißt nach Claus Graf Stauffenberg. Andere Zusammenschlüsse nannten sich „Weiße Rose“ oder „Onkel Emil“. In ihnen versammelten sich Menschen um eine Idee, einen Plan, ein ihnen als erstrebenswert geltendes Ziel. Die einen kannten sich schon aus den sozialen und politischen Kämpfen in den Jahren der Weimarer Republik, sie waren Genossen auf einem mehr oder weniger langen Wege, mochten sie sich persönlich begegnet sein oder nicht. Andere hat früher oder später erst die Opposition gegen das menschenfeindliche mörderische Regime zusammengeführt. Bei aller Verschiedenheit war ihnen doch das eine gemeinsam: das Naziregime von innen heraus zu stürzen oder dann – als es doch bis in seinen Krieg gelangt war – einen Beitrag zu seiner Niederlage zu leisten. Gemeinsam war ihnen ebenso vieles, was sich das Innenleben dieser Gruppen nennen lässt: das Zueinander aufgebrachte Vertrauen, ihre Solidarität, die Sorge um das Leben des Anderen, geübt bis in die Folterkeller der Gestapo. Viele Geschichten, die dieses Verhalten bezeugen, sind überliefert, erzählt oder geschrieben worden, Geschichten vom Alltag der Illegalität oder der Gefangenschaft in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Mit einem Einfallsreichtum und mit Mut, erworben und erprobt noch in der relativen Freiheit, wurde selbst hinter Mauern und elektrisch geladenen Zäunen die Verbindung der Gleichgesinnten gesucht, gefunden, gepflegt, die eine Quelle war, aus der Überlebenskraft geschöpft wurde.
Das Wort Überleben hätte auch den Einspruch Walter Bartels hervorgerufen, der darauf bestand, dass es ihm und seinen Gefährten auch in Buchenwald nicht nur um das Überleben gegangen sei, sondern dass sie – selbst in dieser Lage noch – tun wollten und taten, was ihnen irgend möglich war, dem Regime sich so wenig wie möglich dienstbar zu machen und besser noch ihm zu schaden. Dieser Einwand galt namentlich der Verzeichnung, die der nach Jena berufene Historiker Lutz Niethammer vom Kampf der deutschen Kommunisten lieferte, in dem er ihre Rolle als Gefangene auf dem Ettersberg auf eine auf sie selbst gerichtete Überlebensstrategie reduzierte und das Verdienst ignorierte, das sie sich – soweit ihre Kräfte reichten – um ihre Mithäftlinge, Gruppen und Einzelne, erwarben. Und zudem: Mir ist der Wille, sich behaupten und überleben zu wollen, und sei es „nur“ um am Tage danach vom Erlebten Kunde zu geben und so warnend für ein „Nie wieder“ einzutreten, immer als ehrenwert erschienen.
Wenn also von der „Einsamkeit“ von Widerstandskämpfern gesprochen wird, sind dann nicht nur die Situationen jener gemeint, die Jahre in Einzelhaft verbrachten, eine Situation wie die Ernst Thälmanns? Das zwischen schweigenden Mauern und auf wenigen Quadratmetern? Es gibt davon ein paar Situationen mehr. Zwei davon besitzen einen gewissen Bekanntheitsgrad. Die eine ist die Geschichte des Arbeiters Georg Elser, der Hitler, von dem er wusste, dass er zum Kriege trieb und der ihn am 1. September 1939 begonnen hatte, in die Luft sprengen und so dem geschichtlichen Gang eine Wendung zu geben hoffte. Man mag versuchen, sich einen Moment die 30 Nächte vorzustellen, die Elser zunächst in der Besenkammer versteckt und dann arbeitend im Saal des Bürgerbräu in München zugebracht hat, dazu die Vorarbeiten zur Beschaffung des Sprengstoffes und die Herstellung des Zünders. Das Attentat schlug fehl, Elser wurde ergriffen, in das Konzentrationslager Dachau gebracht und dort, das Stadium der Agonie des Regimes war schon erreicht, am 9. April 1945 ermordet.
Mit dem Manne haben sich die verschiedensten Gruppen von Deutschen schwer getan. Die einen, weil er mit seine Tat gegen die nach 1945 massenhaft benutzte Ausflucht stand, man habe gegen dieses Regime ja nichts tun können. Andere wieder, weil sie den individuellen Terror grundsätzlich als geeignete Methode des Kampfes selbst gegen ein mörderisches Regime ablehnen, ein Standpunkt, der in dieser Absolutheit fragwürdig ist. Doch besaß dieses Nein in der deutschen Arbeiterbewegung seine Tradition. Sie reichte zurück bis in ihre Anfänge und hatte sich in der Ablehnung der Attentate auf Bismarck 1866, begangen in der Absicht der Verhinderung des preußisch-österreichischen Krieges, und 1874, verübt von einem katholischen Böttchergesellen aus Protest gegen die antiklerikale Politik des Kanzlers, geäußert. Dessen Versuche, insbesondere die vier Jahre später erfolgten zwei Attentate auf Kaiuser Wilhelm I. den Sozialisten anzulasten, scheiterten.
Inzwischen ist Elser, dessen erste Biographie 1970 erschien, das ihm gebührende Gedenken zuteil geworden. An mehreren Orten Deutschlands gibt es Denkmäler, Büsten und Säulen, die an ihn und seine Tat erinnern. 1969 wurde ein Dokumentar-, 1989 ein Spielfilm über ihn gedreht. In mehreren Städten existieren Georg-Elser-Initiativen, die sich auf verschiedensten Feldern für Zivilcourage einsetzen, und ein nach ihm benannter Preis wird verliehen. 1999 löste ein Mitarbeiter des Dresdener Hannah Arendt-Instituts eine Kontroverse darüber aus, ob Elsers Tat als vorbildlich angesehen werden könne.
Ein zweites Geschehnis, das von der Einsamkeit der Widerstandskämpfer zeugt, ist durch einen Roman bekannt geworden. Ihn schrieb Hans Fallada 1946 in wenigen Wochen, nachdem ihm Johannes R. Becher, der spätere Kulturminister der DDR, ein Konvolut von Akten übergeben hatte, das von dem Prozess gegen ein Berliner im Wedding wohnendes Arbeiter-Ehepaar zeugte. Es hatte auf die Nachricht vom Kriegstod des Bruders und Schwagers im Westfeldzug 1940 begonnen, seinen Protest gegen das Regime auf einfachen Postkarten nieder zu schreiben, die wie Flugblätter in Häusern abgelegt wurden. Die beiden, Elise und Otto Hampel, wurden 1943 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und in Plötzensee hingerichtet. Sie waren, was man Einzelkämpfer nennt, ohne Verbindung oder auch nur Wissen von anderen Gruppen von Nazigegnern. An sie erinnert heute auch eine Tafel an ihrem einstigen Wohnhaus, deren Inschrift sagt, sie hätten sich gegen die „Menschenvernichtung des NS-Regimes“ aufgelehnt, worunter sich der Vorübergehende vorstellen mag, was er kann und will. Das Urteil der Nazirichter hatte auf „Zersetzung der Wehrkraft“ gelautet.
Das Buch Falladas, das Primo Levi das beste Buch nannte, „das je über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geschrieben wurde“, besaß einen Fehler. Es erschien in der Sowjetischen Besatzungszone und wie die dort gedrehten antifaschistischen Filme verfiel es jenseits der Zonen- und Sektorengrenze zunächst der Nichtachtung. Dann war es der Widerstandskämpfer Falk Harnack der 1962 im westdeutschen Fernsehen den Roman verfilmte. Eine weitere Verfilmung nahm die DEFA 1970 für das ostdeutsche Fernsehen vor. Die war ebenso erstklassig mit Schauspielern besetzt wie der Spielfilm, der 1975 in der Bundesrepublik in die Kinos kam, in dem Hildegard Knef die weibliche Hauptrolle spielte. 1964 erschien der Roman in Hamburg bei Rowohlt. Erst 1989 wurde am Wohnhaus der Hampels eine Gedenktafel enthüllt. Zum 100. Geburtstag Falladas gab die Bundespost 1993 eine Briefmarke heraus. Erneut zu einem Bestseller wurde sein letzter Roman „im Westen“ jedoch erst, als ihn der Aufbau Verlag, der das Buch nach Falladas Tod 1947 herausgegeben hatte, der in den fünfziger Jahren dann in der DDR Auflage nach Auflage erlebte, im Jahre 2011 neu herausgab. Hier folgte nun ebenfalls eine Auflage der anderen. Der Roman warf mit der Geschichte der Quangels, dem literarischen Namen des Ehepaares, viele Fragen auf, die ihren Sinn und Zeitbezug bis heute nicht eingebüßt haben: so die nach dem Sinn des Widerstands in einer regimehörigen Umgebung und die nach der Bedeutung des Widerstands für jene selbst, die leisten und sich so handelnd dagegen schützen, Material der Herrschenden zu werden, sich selbst aufzugeben.
Die Berichte von den im eigentlichen Sinn einsamen Widerstandskämpfern sind mit diesen beiden exotischen, das meint ungewöhnlichen Geschichten nicht erschöpft. Eine andere ist die des Bernhard Lichtenberg, eines katholischen Geistlichen, der seit 1938 Dompropst an der Hedwigskathedrale in Berlin war. Der außergewöhnliche Priester war schon in der Weimarer Republik als ein Gegner der Reaktion und ein Mann des Friedens hervorgetreten. 1929 hatte er in einem Brief an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gegen das Treiben des Tannenbergbundes protestiert, zu dessen führenden Personen der kaiserliche General Erich Ludendorff gehörte. 1931 warb er für den Besuch des von den Nazis des Gauleiters Joseph Goebbels angefeindeten Antikriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ nach dem berühmten Roman von Erich Maria Remarque. 1933, über die Gräuel im KZ Esterwegen unterrichtet, hinterlegte er einen Protest im Büro des dafür verantwortlichen preußischen Innenministers Hermann Göring. 1938 betete er mit den verfolgten Juden. Von ihm stammt das Wort „Draußen brennt der Tempel, das ist auch ein Gotteshaus“. 1941 folgte sein Protest gegen den Mord an den Behinderten, den er an den Reichsärzteführer Leonardo Conti richtete. Im gleichen Jahr wurde er verhaftet. Er bot den Gestapo-Leuten an, Berlin zu verlassen und als Seelsorger in das Ghetto Litzmannstadt (Lodz) zu gehen. Doch wurde er, 1942 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, in Tegel gefangen gehalten. Wie andere Gefangene auch, kam er nach dieser Zeit nicht frei, sondern auf einen Transport mit dem Ziel KZ Dachau. Auf dem Wege dahin verstarb er am 5. November 1943 in Hof. Von seinen Amtsbrüdern und Vorgesetzten und aus den Berliner Gemeinden der katholischen Christen sind keine Initiativen überliefert, die auf die Regierenden einen Druck ausgeübt hätten.
Es war nach 1945 auch nicht zuerst die Kirche, die sich seiner angemessen erinnerte, denn von dem Manne zu sprechen, hieß doch die Frage aufzuwerfen, was tat Rom, was der 1958 gestorbene Papst Pius XII., nachdem in Westdeutschland und Westberlin bereits Straßen, Alleen, Plätze und auch ein Ufer, das der Mosel in Trier, benannt worden waren? Die sich damit verbindenden Fragen wurden in den sechziger Jahren Thema und Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen und auch von Veröffentlichungen in der Massenpresse. Nichts aber löste weitreichendere und schärfere Kontroversen aus als das Drama Rolf Hochhuths Der Stellvertreter, das unter der Regie Erwin Piscators 1963 seine Premiere an der Freien Volksbühne in West-Berlin hatte und dessen Text im gleichen Jahr bei Rowohlt erschien. Die fiktive Gestalt des Ricardo Fontana besaß nach seiner Haltung einen Bezug auch zu Lichtenberg und zu Maximilian Kolbe, des polnischen Franziskaners, der sich in Auschwitz 1941 an Stelle eines Familienvaters opferte.
Die Antwort des Papstes Paul VI. bestand darin, 1965 einen Seligsprechung-Prozess für eben jenen seiner Vorgänger, Pius XII. einzuleiten, dessen Rolle im Zentrum der Kritik stand. Im gleichen Jahr aber wurden die sterblichen Überreste Lichtenbergs in die Krypta der Hedwigskirche überführt. In ihrem Foyer steht sei 1991 eine Büste, von der ein Duplikat 1992 in der Hofer Marienkirche eingeweiht wurde. In Berlin gibt es Straßen, einen Platz und eine Katholische Schule unter der Trägerschaft des Erzbistums, die nach ihm benannt wurden. Auch Gedenktafeln erinnern an ihn. Ihr Texte nennen ihn einen Märtyrer und Streiter für die Rechte der Menschen und der Kirche, doch wird weder auf seine Parteinahme gegen den Krieg noch für die Juden und seinen Protest gegen den Behindertenmord Bezug genommen. 1996 wurde Lichtenberg durch Johannes Paul II. selig gesprochen. In Israel wurde er 2005 als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.
Soviel zu den Einsamen, zu drei Einzelkämpfern gegen das Naziregime. Doch ist damit das Thema weder im Detail noch im Ganzen erschöpft. Denn es betrifft doch auch die Gesamtsituation des Widerstands und seiner Teilnehmer und das im Besonderen in Deutschland. Das führt noch einmal zu unseren Geschichtsbildern zurück. Sie sprechen von den beteiligten Gruppen, von ihren Aktionen, Zielen und Hoffnungen und von ihrem direkten feindlichen Vis-a-vis mit der Gestapo, ihren Bütteln und Denunzianten und sodann von den Schindern und Mördern in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Zu lesen ist von geheimen Zusammenkünften, von der Formulierung, der Herstellung und der Verbreitung von Flugblättern, von Inschriften an Mauern und Häuserwänden, von Fahnen an Schornsteinen, von Flüsterpropaganda, von Sabotage in Rüstungsbetrieben, von Hilfen für Juden, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.
Was in diesen Geschichten meist oder nur am Rande oder nur schemenhaft vorkommt, das ist die übergroße Mehrheit ihrer Landsleute, die Massengefolgschaft des Regimes, die Menschen, die doch die Adressaten dieser Aufklärung waren. Als existiere da eine Scheu das Thema nach dem Erfolg dieser doch auf sie, auf ihren Gesinnungs- und Haltungswandel gerichteten Anstrengungen aufzuwerfen, weil da von Vergeblichkeit, nicht von Scheitern geredet und geschrieben werden müsste, weil da die Sinnfrage lauert, die doch vor allen anderen die Opfer betrifft. Als würden wir das Eingeständnis meiden wollen, dass dieser Kampf aufs Ganze gesehen sein Ziel verfehlt hat, das doch darin bestand, die Deutschen zu einem Beitrag zur Überwindung des Naziregimes zu mobilisieren, womöglich zu ihrer Selbstbefreiung.
Die Widerstandskämpfer in Deutschland waren isoliert, ungleich stärker als die in den besetzten Ländern, das meint die Wendung, sie waren einsame Kämpfer. Sie lebten in einer feindlichen oder doch sie ablehnenden Umwelt. Und auch auf diese Situation waren sie nicht vorbereitet. Ihre Vorstellungen vom weiteren Gang der deutschen Entwicklung, die sie nach dem 30. Januar 1933 hegten, wichen weit von dem ab, was sich dann tatsächlich ereignete. Sie hatten gehofft, dass die Diktatur bald in eine Krise geraten und dass dies zu einer Entlarvung der Machthaber und der Abwendung eines großen Teils ihrer Gefolgschaft führen werde. Das Gegenteil trat in. Die ökonomische Krise war an der Wende von 1932 zu 1933 bereits im Abklingen, wenn auch die Arbeitslosigkeit saisonal noch einmal und dann auch wieder im Winter 1933 auf 1934 anstieg. Doch von einer politischen Krise konnte keine Rede sein. Das Regime festigte sich in einem Tempo, das jenes seines italienischen Vorgängers weit in den Schatten stellte.
Das Regime, das schon bei seinem Start die Hälfte der Deutschen Wahlbevölkerung hinter sich gebracht hatte, festigte seine Massenbasis. In anderen bürgerlichen Staaten wünschten sich Politiker einen solchen Grad von Zustimmung, Unterstützung, Beifall zu erreichen. Immer wieder wurden jene Bindungen demonstriert, die schließlich in der Losung gipfelten „Ein Volk –ein Reich – ein Führer“, die 1938 den Anschluss Österreichs feierte. Da war schon eine ganze Kette denkwürdiger Demonstrationen entstanden, beginnend mit der am 1. Mai 1933 auf dem Tempelhofer Flugfeld, sich fortsetzend in den Kundgebungen der Bauern bei den alljährlichen Reichserntedankfesten auf dem Bückeberg bei Goslar, anlässlich der Olympischen Spiele 1936, bei den alljährlichen Partei-Veranstaltungen im September in Nürnberg und im November in München. Dazu die vielen lokalen und regionalen Aufläufe, insbesondere wenn der „Führer“ Städte besuchte, Manöver oder Schiffsstapelläufe stattfanden. Als Mussolini Deutschland 1937 besuchte, hallte es durch die Straßen Münchens, Berlins und Essen „Duce! Duce! Duce!“ Immer war da Manipulation im Spiel, nie fehlte mehr oder weniger sanfter Druck, doch nie war das nur eine Mache der Machthaber.
Würde man eine Kurve der Massenzustimmung für dieses Regime zeichnen, verliefe sich im Ganzen ansteigend und besäße im Vorkrieg ihren Gipfelpunkt 1938, als Hitler in Wien einzog und alle Deutschen, ob sie je dahin gelangten oder nicht, die Alpen wieder hatten und den Walzerkönig und den Andreas Hofer. In diesem Verlauf gibt es wenige „Dellen“, aber keine Abstürze. Der eine lässt sich Ende 1935 ausmachen, als infolge der überhitzten Aufrüstung eine Verknappung von Grundnahrungsmitteln eintrat, der andere im September 1938, als die so genannte Tschechenkrise Kriegsfurcht aufkommen ließ. Und dann im Kriege erreichte die Begeisterung eine hysterische Stufe, als Hitler, der Sieger, aus Frankreich nach Berlin zurückkehrte. Lieferte da nicht jeder Tage Anstöße und Gründe sich zu fragen: „Ist denn diesen Leuten überhaupt zu Verstand zu helfen? Müssen sie nicht erst die Rechnung mit verursachen, die sie dann werden bezahlen müssen?“ Die Literatur über den Widerstand berichtet wenig davon, dass diese Fragen gestellt wurden, nichts von dem massenhaft zu habenden Stoff, aus dem die Resignationen gemacht sind. Am ehesten haben noch Spielfilmsequenzen davon ein Bild gegeben.
Noch einmal: Von dieser Umwelt in einem faschisierten Deutschland ist in unseren Berichten über den Widerstandskampf wenig zu hören und zu lesen. Das jüngste Beispiel liefert Ulrich Schneider in einer Besprechung eines Buches, das von Grete und Adolf Noetzel berichtet, einem Ehepaar, das zu einer Widerstandsgruppe im Rhein-Main-Gebiet gehörte (siehe junge Welt, 17. Oktober 2011, S. 15). Er wurde in den Tod getrieben, sie überlebte in einem Konzentrationslager. Auch da gibt es nur Mitkämpfer und Gegner, und nicht die Mehrheit der Deutschen, die Adressaten. Werden sie aber mit in Betracht gezogen, erhebt sich die Frage nach den Resultaten dieses Kampfes und da lautet das Generalfazit: diese Mehrheit hat, wie die Machthaber es von ihr erwarteten, ausgehalten und durchgehalten, sie ist ihnen, wenn auch nicht marschierend, so doch gefolgt, bis nahezu alles in Scherben gefallen war. Wäre es, die Frage ist gestellt worden, da nicht besser gewesen, sich das Leben zu bewahren für den Tag danach, anstatt sich zu opfern. Aber: Wie sollte der Tag danach dann kommen? Wer ihn herbeiführen? Die Anderen? Welche? Diese Fragen sind mit der Entfernung von den Ereignissen weitgehend verdrängt. Nicht ganz, denn die Abwägungen sind nicht verstummt: Was hätte zwischen den Jahren 1933 und 1945 getan werden können und wer hätte was tun können? Beispielsweise im Hinblick auf die auswärtigen Mächte, da allerdings mehr mit dem Blick auf die UdSSR als auf Großbritannien. Auch hinsichtlich des Papstes Pius XII., für den der Seligsprechungs-Prozess, 1965 eingeleitet, inzwischen weit vorangeschritten sein soll, wird so nachgefragt.
Was die Widerstandskämpfer in Nazideutschland taten, war als ein Wirken in die Gegenwart gedacht, erwies sich jedoch ungleich mehr als eine Investition in die Zukunft. Ihr Verdienst wird deutlich, wenn auch nur ein Moment lang überlegt wird, wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft sich befunden haben würde, ohne die überlebenden Antifaschisten und das Wissen um die Toten. Es ist fast vergessen, dass es im Kriege und besonders seit der Aufdeckung der Massenverbrechen in den USA Vorschläge gab, die auf der These fußten, die Deutschen seien als Volk oder als Nation allesamt verderbt und verdienten deshalb unter den Völkern für alle absehbare Zukunft eine besondere Behandlung, damit sie nicht wieder Unheil anrichten könnten. Die deutschen Widerstandskämpfer waren die leibhaftige Widerlegung dieser Konstruktion. Vor allem aber waren sie in Ost wie in West die Aktivisten (und nicht nur) der ersten Stunde. Sie hatten, ist später oft gesagt worden, die Ehre der deutschen Nation gerettet. Diese Ehre ist ein etwas mystisches Ding. Jedenfalls hatten diese Frauen und Männer, Deutsche, bewiesen, dass in ihren Adern so wenig ein besonderer Saft fließt wie in denen der Juden.
Die Geschichte des deutschen antifaschistischen Widerstandskampfes ist die Geschichte eines Wirkens unter den schwierigsten objektiven und subjektiven Bedingungen, und dass sie in so hohem Grade ein Opfergang wurde, ist eben diesen Bedingungen geschuldet gewesen. Sich den Reihen dieser Minderheit anzuschließen, dazu gehörten Charakter- und Überzeugungs- und, auch strenge Rationalisten und Atheisten sollten sich nicht scheuen, das zuzugeben, zudem noch Glaubenskräfte. Der Überzeugte mag mit dem Engländer George Gordon Byron gesagt haben: „Der Freiheit Kampf, einmal begonnen, vom Vater blutend auf den Sohn vererbt, wird immer, wenn auch schwer gewonnen.“ („For Freedom’s battle once begun,/Bequeathed by bleeding Sire to Son,/Though baffled oft is ever won.” The Giaour, 1813). Der Gläubige mag sich bescheiden und einschränken: „Vielleicht – vielleicht auch nicht“ oder sich der Erzählung über Martin Luther erinnern, der, als er einmal gefragt wurde, was er unternähme, wenn er mit Gewissheit wüsste, dass morgen die Welt unterginge, geantwortet habe: „heute noch würde ich einen Apfelbaum pflanzen.“ Die deutschen Widerstandskämpfer waren solche Pflanzer. Menschen wie sie werden im 21. Jahrhundert noch und mehr noch gebraucht. Da lässt sich jene Haltung mit auf den Weg nehmen, die Peter Hacks in der Anekdote „Optimismusdebatte“ beschrieb: „Kann man überhaupt etwas tun, sagte ein Mitkämpfer, der es satt hatte. Tun wir denn nichts? fragte Hacks. Was immer wir tun, sagte der Freund, es zeitigt keine Folgen. „Wer weiß“, sagte Hacks, „heute nein, morgen doch.“
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